ANZEIGE
Kategorien
Seite 3 Redaktion

Pflanzen im Stress

Foto: Jan Lange/DWD

Als Meteorologe beim Deutschen Wetterdienst hat Michael Gutwein aus Esslingen vier Jahrzehnte lang die klimatischen Veränderungen in der Region beobachtet. Als Phänologe beobachtet er die Auswirkungen des Klimawandels auf die Pflanzenwelt. 

Als Meteorologe weiß Michael Gutwein genau Bescheid über Hitze, Kälte, Regen, Sonne, Schnee und Frost. Vier Jahrzehnte lang war er am Schnarrenberg in Stuttgart für viele das Gesicht des Deutschen Wetterdienstes (DWD), und auch im Ruhestand ist der Esslinger in Wetterfragen eine Institution. Seit 1990 gehört er zu dem Kreis von bundesweit 1250 ehrenamtlichen Phänologen, die über das Jahr zahlreiche Pflanzenarten beobachten und Buch führen über deren Entwicklung von der Blüte im Frühling bis zum Blattfall im Herbst.

Was Gutwein seit Jahrzehnten akribisch in seinem phänologischen Tagebuch notiert, gibt ihm zu denken: „Die Winterruhe wird immer kürzer, die Blüte setzt immer früher ein. Das macht die Knospen so früh im Jahr anfälliger.“ So zeitigt der Klimawandel in der Pflanzen- und der Tierwelt immer spürbarere Folgen.

Wenn Gutwein Pflanzen im Botanischen Garten der Universität Hohenheim oder am Schnarrenberg begutachtet, registriert er genau wie auf der Esslinger Neckarhalde oder in seinem Garten in Krummhardt die Veränderungen: Überall setzt die Vegetation nach der Winterpause sehr viel eher ein als gewohnt. Nur einige Beispiele von vielen: Die Haselblüte hat Gutwein bereits am 4. Januar in sein phänologisches Tagebuch eingetragen, die Schneeglöckchenblüte am 28. Januar, die Schwarz-Erle folgte am 16. Februar, Weidenkätzchen dann am 20. Februar, Forsythien am 23. Februar. Derzeit blühen Buschwindröschen, Zwetschgen, Pfirsiche, Aprikosen und vieles mehr. „Alles ist in diesem Jahr mindestens drei Wochen zu früh dran“, sagt der Phänologe. Und auch das Dauergrünland wirkt – bedingt durch den milden Winter und die ausgiebigen Niederschläge der jüngeren Zeit – viel satter als gewohnt.

Als erfahrener „Wetterfrosch“ weiß Michael Gutwein sehr gut, dass das Wetter seinen eigenen Gesetzen folgt – und dass es zu allen Zeiten mal wärmere und mal kältere Winter gab. „Doch der Trend ist leider eindeutig“, konstatiert er: „Die Zahl der warmen Winter nimmt zu, die Zahl der frostigen Tage oder gar der Schneefälle nimmt deutlich ab. Irgendwann werden wir unter 1500 Metern keinen Schnee mehr haben.“

Dabei wären Phasen mit klirrender Kälte für viele Pflanzen und deren Gedeihen ungemein wichtig – etwa für das Wintergetreide. „Ich mag mir gar nicht ausmalen, was es für Wintergerste, Winterweizen, Winterroggen oder Winterraps bedeutet, wenn die Winter immer wärmer werden“, sagt Gutwein. Und er denkt dabei an viele andere Pflanzenarten, die früher ganz selbstverständlich zum hiesigen Bestand gehörten und die sich immer schwerertun, je wärmer die Durchschnittstemperaturen werden. Im Gegenzug werden Pflanzen, die bislang eher in der Mittelmeerregion zuhause waren, verstärkt hier Einzug halten – und mit ihnen auch neue Schädlinge.

Wenn andere über den Klimawandel und seine Folgen diskutieren, kann Michael Gutwein mit zahlreichen Beispielen aufwarten, die beweisen, dass die Erderwärmung immer deutlicher Wirkung zeigt – in der Pflanzen- wie in der Tierwelt. Was für viele ein eher allgemeiner Eindruck ist, kann der 65-Jährige anhand zahlreicher Beispiele belegen. Als ehrenamtlicher Phänologe beim Deutschen Wetterdienst ist Gutwein vom Frühjahr bis zum Herbst zwei- bis dreimal in der Woche in seinen Beobachtungsgebieten unterwegs – jedes Mal sechs bis sieben Kilometer zu Fuß. Ob Wildpflanzen, Forst- und Ziergehölze, landwirtschaftliche Pflanzen, Obstbäume oder Weinreben – für viele Dutzend unterschiedlicher Pflanzen werden die einzelnen Entwicklungsschritte genau festgehalten und dann per Internet an die DWD-Zentrale in Offenbach gemeldet. Dort fließen alle Erkenntnisse zusammen. Anhand einer „phänologischen Uhr“ lässt sich dann ablesen, wie sich die Vegetationsphasen im Laufe der Jahrzehnte verschieben.

Statt der üblichen vier verzeichnet die phänologische Uhr zehn Jahreszeiten: Vorfrühling, Erstfrühling, Vollfrühling, Frühsommer, Hochsommer, Spätsommer, Frühherbst, Vollherbst, Spätherbst und Winter. Dass die Winterzeit von durchschnittlich 112 Tagen in den Jahren 1961 bis 1990 auf 96 Tage in den Jahren 1991 bis 2020 zurückgegangen ist, ist für Gutwein, der als gelernter Gärtner rund 1500 Pflanzen „mit allem Drum und Dran“ kennt, nur eine von vielen bedenklichen Erkenntnissen: „Die Pflanzen kommen nicht mehr zur Ruhe und sind immer mehr Stress ausgesetzt – wie ein Mensch, der schlecht schläft. Wenn die Blüte immer früher einsetzt, wächst vor allem in tieferen Lagen die Gefahr, dass ein Frosteinbruch kommt und die Knospen zerstört. “ Passiert das häufiger, kann bei empfindlichen Pflanzen wie der Walnuss nicht nur die Ernte, sondern die Pflanze selbst zu Schaden kommen.

Bewertet der Phänologe das und vieles mehr, was er Tag für Tag in der Natur beobachtet, blickt er nicht gerade optimistisch in die Zukunft: „Es gab auch vor 80 Jahren bereits milde Winter, aber so extrem wie heute war das nicht. Ob das auf Dauer gut geht, weiß keiner“, sagt Gutwein. (adi)