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Vorausdenkende Köpfe statt Abrissbirnen

Foto: Architects for Future Esslingen

Architects for Future gründen eine Ortsgruppe in Esslingen. Weil der Bausektor weltweit größter Klimakiller ist, engagieren sich die Experten für nachhaltige Planung. Das schließt die klare Positionierung zu lokalen Neubau- und Abrissprojekten mit ein.

in Architekt, der für Neubau-Vermeidung plädiert – ist das nicht wie ein Veganer als Wurstfabrikant? Wenn ja, dann ist Markus Binder, Architekt mit Büro am Esslinger Rathausplatz und Professor für Integrierte Gebäudetechnik an der Stuttgarter Hochschule für Technik, ein solcher Veganer. Aber der Vergleich ist schiefer als der Turm von Pisa. Kein Architekt muss sein Metier preisgeben, wenn er eher über Um- als Neubauten nachdenkt. Im Gegenteil: „Die Umnutzung vorhandener Bausubstanz ist eine anspruchsvolle Entwurfsaufgabe“, sagt Binder – anspruchsvoller als das Zubauen grüner Wiesen, „das es künftig immer weniger geben wird“. Nicht nur wegen des Flächenverbrauchs, sondern weil sich generell etwas ändern muss im Bausektor, dem „weltweit größten Treiber des Klimawandels“. Die Konsequenz ist für Binder, „grundsätzlich von dem auszugehen, was schon da steht“. Im Interesse der Nachhaltigkeit und der Ressourcenschonung müssen Abrissbirne und Neubau zu möglichst seltenen Ausnahmen werden – zumal in dicht besiedelten Gebieten.

Für Binders Mitstreiter Erwin Höfler, der zusammen mit einer Frau Barbara Thiele-Höfler ein Architekturbüro in der Esslinger Neckarstraße betreibt, gibt es ein konkretes Skandalon, einen Stein des Anstoßes, als Musterbeispiel für das Gegenteil von Nachhaltigkeit: den Abriss und Neubau des Landratsamts. „Das hätte man anders machen müssen“, sagt Höfler. „Zumindest hätte man den Rohbau stehen lassen und so die Graue Energie erhalten können“ – also die beim Bau aufgewendete Energiemenge, die bei einem Neubau, wenn auch in anderer Höhe, erneut anfällt.

Das Baudrama Landratsamt war für Höfler ein Anlass, zusammen mit Binder die Esslinger Ortsgruppe der Architects for Future ins Leben zu rufen. Ein sprechender Name: Als berufsspezifische Bürgerbewegung fühlen sich die rund 50 deutschen Ortsgruppen den Zielen von Fridays for Future verbunden – angewandt auf die besonderen Herausforderungen im besonders klimaschädigenden Bausektor. Die Esslinger Gruppe, neben der Stuttgarter die einzige der Region, hat sich im Mai mit fünf Mitgliedern konstituiert. Höfler und Binder hoffen auf regen Zulauf, Interessenten gebe es bereits.

Ihre wichtigste Aufgabe sehen die Esslinger Zukunftsarchitekten in einer ganz eigenen Bauaufgabe: dem Aufbau von Bewusstsein in den Köpfen nicht nur der Architekten, sondern der Bauherren, Entscheidungsträger und der Öffentlichkeit. „Unsere Fachzeitschriften sind voll mit Beiträgen über nachhaltiges Bauen“, sagt Höfler. „An Wissen fehlt es gewiss nicht“ – aber bisweilen an jenem Bewusstsein. Dass zum Beispiel ökologisches Bauen, wie noch heute in Gemeinderäten zu hören, stets „teurer“ sei als konventionelle Methoden und damit unter Luxusverdacht steht, ist laut den beiden Architekten eine Mär, die noch nicht mal bei isolierter Betrachtung der Baukosten immer stimmt. Und selbst wenn: „Langfristig“, so Binder, „ist Nachhaltigkeit auch wegen der zu erwartenden Energiepreise auf jeden Fall günstiger“. Gesellschaftlich und volkswirtschaftlich sowieso: „Der sogenannte CO2-Schattenpreis beziffert die gesellschaftlichen Kosten eines Bauprojekts. Er berechnet die klimaverändernde Wirkung der anfallenden CO2-Emissionen und die Folgeschäden, zum Beispiel Überschwemmungen.“ Kann man das exakt ermitteln? „Nicht ganz exakt, aber es gibt verlässliche Werte“, sagt Binder.

Aus all dem leite sich nicht weniger als ein vielschichtiger „Paradigmenwechsel“ des Planens und Bauens ab. Höfler weist zum Beispiel auf eine neue „architektonische Ästhetik“ hin, wenn künftig überwiegend recycelte oder sortenreine Baumaterialien zum Einsatz kommen, die verschraubt, zusammengenagelt oder auf andere mechanische Art verbunden werden. Dagegen seien klassische Verbundstoffe wie etwa Beton kein Baumaterial der Zukunft, da sie nur mit sehr hohem Energieeinsatz in ihre Ursprungsmaterialien getrennt und somit recycelt werden können. Zum Paradigmenwechsel gehört also auch das planerische Mitbedenken eines möglichen Abrisses, der auch noch in ferneren Jahrzehnten durch Materialrecycling ökologisch abgefedert werden muss.

Aber im Vordergrund steht die Priorität der Umnutzung, und mit ihr wollen die Architects for Future in kommunalpolitische Debatten hineinwirken, bevor es, wie beim Landratsamt oder bei den umstrittenen Esslinger Neubaugebieten, zu spät ist. Man werde Position beziehen, kündigt Binder an: etwa zum Hochschulgebäude auf der Esslinger Flandernhöhe, dem unter Umständen der Abriss droht. Eine aktuelle Vorlage für den Ausschuss für Technik und Umwelt des Esslinger Gemeinderats lässt diese Frage noch offen. Binder zeigt sich aber enttäuscht, dass „sich die Stadt nicht klarer positioniert für einen Erhalt des Gebäudes, soweit er mit der geplanten Wohnraumnutzung vereinbar ist. Man kann dann immer noch zum Ergebnis kommen, dass einzelne Teile zurückgebaut werden müssen“. (mez)