Foto: Roberto Bulgrin
Wie kommt man als Radfahrer an Fußgängern vorbei? Ganz klare Regeln gibt es nicht, auch Klingeln ist nicht ausdrückliche Vorschrift. Daher gilt: gegenseitige Rücksicht, Tempo verringern, Platz machen. Für Radfahrer ist es die Wahl zwischen Panik und Schock. Ort der Handlung: ein typischer Feld-, Wald-, Wiesenweg oder sonst eine von Radlern und Fußgängern gemeinsam und gleichberechtigt zu nutzende Fahrbahn. Situation: vorne ein Spaziergängerpulk, möglichst noch ins angeregte Gespräch vertieft. Hinten ein sich nähernder Radler, welcher den wandelnden Debattierclub ungestreift passieren möchte. Dieser Moment ist der Höhe- und Wendepunkt des Dramas: die Radler-Hamlet-Frage. Klingeln oder nicht klingeln? Klingeln verursacht Panikreaktionen, verbunden mit fluchtreflexartigen Sprüngen zur Seite, meistens direkt vor das heranrollende Rad. Nicht-Klingeln führt selbst bei respektvollem Treppeldefilee zu infarktnahen Schocksymptomen, wobei nach überlebter Schrecksekunde oftmals Schimpftiraden dem Davonradelnden folgen. Für Fußgängergruppen ist es die Wahl zwischen Gänsemarsch und Ziehharmonika. Entweder man schreitet einzeln oder höchstens zu zweit stur voran, um dem Radverkehr eine freie Überholspur zu gewähren. Oder man breitet sich über die Fahrbahn aus, wie man es ohne lästigen Autoverkehr ja mal dürfen sollte – aber allzeit bereit, den klingelnd heranbrausenden Radlern durch prompte Gruppenkontraktion zu parieren. Und wehe, es geht nicht schnell genug. Dann setzt es schon mal wüste Worte aus sich glücklicherweise rasant entfernendem Radlermund. Prescht eine(r) ohne Klingeln vorbei, erschrickt man – siehe oben – fast zu Tode. Was tun? Eine klipp und klare Vorschrift gibt es nicht, sagt Ramona Noller, Pressesprecherin des für den Landkreis Esslingen zuständigen Polizeipräsidiums Reutlingen. „Es gelten in solchen Situationen die allgemeinen Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung: die Forderung nach ständiger Vorsicht und gegenseitiger Rücksichtnahme und nach Anpassung der Geschwindigkeit.“ Eine ausdrückliche „Klingelpflicht“ gibt es nicht, die Rechtssprechung ist in der Sache uneins. Angepasste Geschwindigkeit ist indes ein durchaus gemeinsames Anliegen von Thomas Albrecht, Vorstandsmitglied im ADFC-Kreisverband Esslingen, und von Hans-Alexander Frey, Wanderwart bei der Albverein- Ortsgruppe Esslingen. Der Vertreter der Pedal- wie jener der Per-Pedes-Fraktion sind bemüht, den Konfliktball flach zu halten. Beide versichern, dass Fußgänger und Radfahrer auf den genannten Wegen gleiche Rechte und gleiche Daseinsberechtigung haben. Nur fragt sich Frey, ob Tour-de-France-Aspiranten ausgerechnet auf Strecken wie dem Uferweg beim Esslinger Neckarfreibad voll Speed geben müssen – auf riskanter Tuchfühlung mit gemächlichen Spaziergängern und vielen Kindern. Albrecht will ihm da in keiner Weise widersprechen: Die Promenade ist keine Rennstrecke, aber „deshalb brauchen wir mehr Verkehrsflächen für das Fahrrad, zum Beispiel endlich den Radschnellweg“. In der konkreten Fußgänger-Überholsituation gesteht auch Albrecht eine gewisse Unsicherheit ein: „Ob ich klingeln soll oder nicht, weiß ich auch nie so richtig.“ Auf jeden Fall empfehlen kann er: „Tempo drosseln, bremsbereit vorbeifahren, damit rechnen, dass Kinder oder auch Hunde aus ihrer Spur brechen.“ Und: „Vielleicht doch besser klingeln – aber aus einiger Distanz. Allerdings nehmen das die Leute oft nicht wahr, wenn sie sich unterhalten. Aber wenn man zu nah dran klingelt, erschrecken sie.“ Frey kennt das: „Radfahrer sollten sich durch Klingeln bemerkbar machen. Aber wenn so eine Gruppe im Gespräch ist. kriegen die Leute nichts mit oder fühlen sich gestört.“ Er appelliere dann immer an seine Wanderfreundinnen und -freunde, auch für die Radfahrer Verständnis aufzubringen. Beim Hauptverein sieht man das ebenso: „Wir plädieren für gegenseitige Rücksichtnahme“, sagt Ute Dilg, Pressesprecherin des Schwäbischen Albvereins in Stuttgart. In einem Punkt hört das Verständnis jedoch auf: „Unsere schmalen Pfade sind für Radfahrer gesperrt. Leider halten sich nicht alle daran“, klagt Frey. Polizei-Pressesprecherin Noller bestätigt, dass laut Landeswaldgesetz auf Wegen von weniger als zwei Metern Breite das Radfahren verboten ist – es sei denn, die jeweilige Kommune hat eine Ausnahmeregelung erlassen, zum Beispiel für Mountainbike-Trails. Auch unabhängig davon stößt Freys Verständnis-Appell nicht bei allen auf offene Ohren: „In unseren Wandergruppen sind auch viele Ältere. Von denen haben manche geradezu Angst vor Radfahrern.“ Indes wurzelt diese Angst nicht in freier Flur, denn „beim Wandern draußen in der Natur kommt es eher selten zu Konflikten oder gefährlichen Situationen mit Radfahrern“, sagt der Wanderwart. Anders sei es, seinen Wanderkameraden zufolge, in Fußgängerzonen, auf Gehsteigen, in Parks wie etwa der Maille, wo millimeterknappe Ausweichaktionen den Rabiatradlern akrobatisch vorkommen mögen, den Fußgängern aber traumatisch. „Da haben schon manche einen tiefen Groll gegen Radfahrer“, sagt Frey. Nicht ganz so dramatisch, aber auch nicht harmlos nimmt sich die Unfallstatistik aus: 2019 verzeichnete die Polizei im gesamten Kreis Esslingen 21 Unfälle zwischen Radfahrern und Fußgängern. Im Corona-Jahr 2020 schnellte die Zahl auf 31 Fälle hoch, 2021 ging sie auf 20 zurück. Zwischen dem Bedürfnis, abseits des Autoverkehrs Rad zu fahren, und dem Bedürfnis, abseits des Autoverkehrs als Fußgänger auch mal ins Gespräch versunken oder in Gedanken zu sein, besteht der eigentliche, aber lösbare Zielkonflikt; lösbar nicht durch starre Regeln, sondern durch Einsicht bei der Begegnung: langsam fahren und Platz machen.