Foto: Roberto Bulgrin
Er ist weithin sichtbar und dennoch unnahbar: Der höchste Kirchturm in der Region Stuttgart ist jener der Frauenkirche in Esslingen. Weil er für die Öffentlichkeit nur an ausgewählten Tagen zugänglich ist, ist es auch ein einsamer Ort, der sich nur aus der Ferne bewundern lässt. Etwas Unerreichbares also, mystisch. Geeignet, religiöse Gefühle auszulösen, wenn man dafür empfänglich ist.
In gewisser Weise steht der Turm also auch für all das, was die religiöse Vorstellungskraft hergibt, sich aber nicht anfassen lässt. Insbesondere die oberste Spitze, die übers gesamte Jahr allein den Tauben gehört. Menschen haben hier nichts verloren. Einzige Ausnahme: Der Tag des offenen Denkmals, der dieses Jahr am 8. September stattfindet. An diesem Tag gibt es Führungen auf den Turm.
Der Weg nach oben ist mühevoll. Es ist eng, die Steinstufen teilweise steil. Irgendwann aber schafft man es auf ein erstes Plateau und ist überwältigt von einem Blick auf die Esslinger Altstadt, über die vielen Figuren auf Turm und Dach, die aus der Nähe betrachtet etwas unheimlich wirken. Es ist, als wäre man urplötzlich in einer anderen Welt, nämlich in Victor Hugos „Glöckner von Notre-Dame“.
Bereits von unten und von außen ist sofort erkennbar: Der gotische Bau ist stark verschnörkelt und voller Figuren. Wer in dem großen Ensemble nicht fehlen darf, ist der Teufel, der in Esslingen mit einer Zwiebel droht. So erhaben das Bauwerk wirkt, so witzig erscheint diese Figur – ein Widerspruch, der sich nur auflösen lässt, wenn man die Legenden der Stadt kennt.
Die Legende und eine Figur
Die Esslinger bezeichnen sich selbst als Zwieblinger – aufgrund einer skurrilen Erzählung: Eines Tages besuchte der Teufel den Esslinger Wochenmarkt. Dort wollte er einen roten Apfel probieren. Die Marktfrau erkannte den Teufel am Pferdefuß und gab ihm keinen Apfel, sondern eine Zwiebel. Der Teufel biss gierig hinein. Dann verfluchte er die Esslinger: Sie sollten fortan Zwieblinger heißen.
Die Esslinger nahmen es gelassen, denn der Teufel machte sich davon. Was blieb, war der Name. Und die Figur hoch oben auf dem Dach der Frauenkirche. Die allerdings erst spät im 19. Jahrhundert zu der Kirche kam, die zu diesem Zeitpunkt schon über 300 Jahre lang ihre Dienste getan hatte.
Vom ersten Plateau, das den Glockenturm umgibt, geht es noch ein Stückchen höher – und es wird immer schmaler. Hier braucht es gute Nerven, denn der Turm hat keine durchgängigen Mauern, sondern zahlreiche Öffnungen und Ornamente, was ihn äußerst filigran erscheinen lässt. So wirkt er zerbrechlich – ein weiterer Widerspruch in diesem Bauwerk, das ob seiner Größe und seines Alters zunächst einmal den Eindruck eines äußerst mächtigen Bauwerks macht.
Bedeutendes Baudenkmal
Es ist eine Kirche, die sowohl architektonisch als auch kirchenhistorisch von großer Bedeutung ist: Sie gehört zu den bedeutendsten Baudenkmälern Baden-Württembergs, weil sie als die früheste gotische Hallenkirche in Südwestdeutschland gilt. Und kirchenhistorisch wichtig: In dieser Kirche hielt die Reformation 1531 Einkehr in Esslingen – drei Jahre, bevor Württemberg evangelisch wurde. Auch ihre Entstehung ist außergewöhnlich. Die benachbarte Stadtkirche stand unter dem Zepter des Domkapitels Speyer. Der selbstbewussten Bürgerschaft in Esslingen gefiel es nicht, dass sie hier wenig Einfluss hatte und ihre Spenden nach Speyer flossen, anstatt in Esslingen zu bleiben. So entstand die „Kirche zu unserer lieben Frau“, die durch die Spenden der Bürgerschaft finanziert wurde. Baubeginn war 1325. „In den kommenden Jahrhunderten gab es immer wieder Baupausen, geschuldet bestimmten Nöten wie der Pest“, so der Pfarrer Christoph Bäuerle.
Der Turm entstand gegen Ende der Bauzeit zu Beginn des 16. Jahrhunderts – am Vorabend der Reformation. Und auch seine Bauzeit erstreckte sich über eine lange Zeit: So wie er jetzt dort steht, wurde er erst im 19. Jahrhundert vollendet.
Während der Reformation spielten Esslingen und die Frauenkirche eine besondere Rolle. Ulrich von Württemberg machte sein Herzogtum 1534 zu einem der ersten protestantischen Territorien des Heiligen Römischen Reichs. Noch früher aber war Esslingen dran: 1531 gab es einen Kirchensturm, bei dem sehr viele Kunstwerke weggeschafft wurden. Die Werke wurden allerdings nicht zerstört wie andernorts, so Bäuerle. Was einen profanen Grund hat: Die Esslinger Bürgerschaft „wusste, was diese Kunst kostete“. In dieser Zeit predigte der Reformator Ambrosius Blarer in der Frauenkirche. Nach ihm sind in Esslingen auch ein Platz und eine kirchliche Veranstaltungsstätte benannt.
Die Frauenkirche ist immer noch „in Betrieb“ – zu besonderen Gelegenheit findet hier ein Gottesdienst statt. Im Winter fand lange Zeit in der Frauenkirche die Esslinger Vesperkirche statt. Es gibt einige Schulgottesdienste und ein Mal im Monat einen Frühgottesdienst. „Die Kirche ist täglich geöffnet“, sagt Bäuerle und ist sich dabei bewusst, dass sie damit ein gewisses Risiko eingeht. Denn „es gab Probleme, die Tür zur Sakristei wurde schon einmal aufgestemmt, eine Opferbüchse aufgebrochen“. Was für den Dieb enttäuschend endete: Die Büchse wird ständig geleert. (jmf)