Foto: Ines Rudel
Ab dem 18. April beginnt das schriftliche Abitur. Mit dabei sind nicht nur die Gymnasien, sondern auch ausgewählte Gemeinschaftsschulen. An der Esslinger Schule Innenstadt macht der erste Oberstufenjahrgang jetzt Abi.
Die Schildchen mit der Aufschrift „Abitur, bitte Ruhe“ sind gedruckt. Für die Gymnasien ist das nichts Besonderes, dort werden sie jedes Jahr ausgepackt. Wenn diese Zettel aber in der Schule Innenstadt hängen, markiert das eine Premiere, denn an der Esslinger Gemeinschaftsschule macht der erste Oberstufenjahrgang Abitur. „Wir sind darauf sehr stolz“, sagt die Schulleiterin Christel Binder. „Es war immer unser Ziel, alle drei Abschlüsse anbieten zu können, dass wir das geschafft haben, ist einfach toll.“ Anforderungen, Lehrplan und Prüfungen sind exakt die gleichen wie an den allgemeinbildenden Gymnasien im Land. Einziger Unterschied zu den G-8-Schulen ist, dass man an der Gemeinschaftsschule neun Jahre Zeit bis zum Abitur hat, denn vor den beiden Jahrgangsstufen gibt es eine einjährige Einführungsphase. „Die Betreuung ist bei uns bis zum Schluss individueller, es ist eine familiäre Atmosphäre“, sagt die Abteilungsleiterin der Schule, Julia Lachmann.
An diesem Donnerstag beginnt das schriftliche Abitur mit dem Fach Biologie, den Abschluss macht am 7. Mai die Matheprüfung. Die Organisation der Abiprüfungen war Neuland für die Schule und es tauchten immer wieder neue Detailfragen auf, etwa, wem eine Gemeinschaftsschule ihre Arbeiten zur Zweitkorrektur schickt oder woher man vorab die Prüfungsbögen bekommt. Rat habe man sich bei anderen Gemeinschaftsschulen mit Abi-Erfahrung wie in Tübingen geholt oder die Kollegen der Esslinger Gymnasien gefragt. „Die Lehrer waren mehr als anderswo auch auf unser Feedback angewiesen und wollten wissen, was man verbessern könnte“, berichtet die Abiturientin Nina Schlecker.
Eine Gemeinschaftsschule muss neben dem Abitur fast zeitgleich zwei weitere Prüfungen vorbereiten: für den Real- und Hauptschulabschluss. „Das ist ein immenser Aufwand für die Schulleitung“, sagt Binder. Doch jetzt ist alles geschafft. Die Sorge, dass etwas am Prüfungstag schief läuft, hat sie nicht. Wenn doch, wäre das auch nicht vollkommen neu. Die Schulleiterin, die Ende April in Ruhestand geht, hat in ihrer langen Laufbahn manche Panne erlebt. Viel Wirbel habe es etwa 2018 gegeben, als in Bad Urach bei einer Lehrerin privat gelagerte Umschläge mit Realschulprüfungen geöffnet worden waren. Daraufhin wurden die Deutschprüfungen verschoben, was einen Rattenschwanz an geplatzten Abschlussfeiern und stornierten Klassenfahrten nach sich zog.
An der Schule Innenstadt sind 23 Schülerinnen und Schüler zu den Abi-Prüfungen zugelassen. „Wir sind froh, dass es noch nicht so viele sind, so können wir weiter Erfahrungen sammeln“, sagt Julia Lachmann. Doch der Zuwachs in Klasse 11 spreche dafür, dass die Absolventenzahl steigt. Wird an den Gymnasien tatsächlich G 9 zur Regel, befürchtet Schulleiterin Christel Binder aber, dass sich das auswirkt. Aus ihrer Sicht braucht es kein neues G 9, stattdessen sollten mehr Gemeinschaftsschulen eine gymnasiale Oberstufe bekommen und die Hürden dafür gesenkt werden, findet sie. „Hier kann man sich in neun Jahren überlegen, welchen Abschluss man machen möchte“, wirbt sie, das nehme den Druck und Kinder haben Zeit, sich zu entfalten.
Auch für Nina Schlecker war das nicht von Anfang an klar. „Es gibt so viele Entwicklungsmöglichkeiten“, sagt die 18-Jährige. Für ihr Abi mit den Leistungskursen Kunst, Deutsch und Biologie fühlt sie sich gut gerüstet, genauso wie Mitschüler Laurenz Rapp. „Zum Konzept der Gemeinschaftsschule gehört, dass man früh lernt, selbstständig zu lernen“, sagt der 19-Jährige, davon profitiere er. Für die Vorbereitung aufs Abi hat er sich einen Lernplan gemacht. Vor allem vor Gemeinschaftskunde, seinem Leistungsfach neben Mathe und Deutsch, hat er Respekt. Bei Nina Schlecker ist es Deutsch. „Man kann da leicht am Thema vorbei interpretieren“, sagt sie. Bammel vor den Prüfungen haben sie dennoch nicht. Im Alltag sind sie etwas vorsichtiger geworden, um auf der Zielgeraden nicht noch krank zu werden oder sich zu verletzten. „Kicken mit Freunden sage ich derzeit lieber ab“, erzählt Laurenz Rapp.
Dass es in Esslingen eine gymnasiale Oberstufe gibt, lag auch an der Hartnäckigkeit einer Elterninitiative. Christel Binder ist dafür bis heute dankbar, aber auch die Flexibilität der Schülerinnen und Schüler habe viel zum Gelingen beigetragen. Ihre Wertschätzung drückt die Rektorin darin aus, dass jeder Prüfling einen handgeschriebenen Brief bekommt. Öffnen dürfen sie ihn am Vorabend der Prüfung.
Das Land war in den vergangenen Jahren zurückhaltend mit der Bewilligung neuer Oberstufen an den Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg. Es gibt sie derzeit in acht öffentlichen Schulen. Gekoppelt ist das unter anderem an die Prognose, dass eine Schule langfristig 60 Kinder in der Oberstufe unterrichtet. In Esslingen war der Antrag umstritten und fand im Gemeinderat nur eine knappe Mehrheit. Als das Kultusministerium schließlich grünes Licht gab, startete zum Schuljahr 2021/2022 der erste Oberstufenjahrgang an der Schule Innenstadt. (pep)