ANZEIGE
Kategorien
Seite 3 Redaktion

Die ungeschminkte Altstadt

Foto: Johannes M. Fischer

Die Reisegruppe aus Kassel hat ihr offizielles Programm hinter sich. Zeit zum Ausruhen, Essen und Trinken, sagen die einen. Andere laufen noch etwas rum, auf eigene Faust. Wir folgen einem Paar, um zu sehen, was sie sehen – und was in keinem Reiseführer nachzulesen ist. Es genügt schon, irgendeine kleine Gasse abseits der touristischen Wege zu nehmen, um das andere Esslingen kennenzulernen. Es ist die Schmuddel-Altstadt, die im Vergleich zum touristischen Zentrum ein klein wenig vernachlässigt, dafür aber umso charmanter wirkt. Das Gästepaar biegt in den Unteren Metzgerbach. Vor einem Fischgeschäft stehen ein paar Leute und halten einen Plausch. Sie unterhalten sich in türkischer Sprache. Die Besucher gehen weiter, vorbei an Cafés mit Sitzplätzen im Freien. Seit Corona sich anschickte, seine Sommerpause einzulegen, füllen sich die Plätze wieder und umhüllen die Altstadtgassen mit jener eigenartigen Musikalität, die der Chor der Straßengespräche hinterlässt. Hier und da löst sich ein verständliches Wort heraus, ein kurzes, lautes Lachen, und dann geht es wieder weiter in dem immerwährenden Strom aus Wörtern, der bis in die Nacht hinein anhält. Es gibt weitere Geschäfte, und die Gäste aus Kassel erkennen, dass überall Menschen zusammenstehen und sich unterhalten. Unser Paar schärft das Auge für Details und erkennt eigenwillige Figuren, Laternen und Fensterläden. Das Keltermännle am Kielmeyerhaus oder den Adler am Alten Rathaus haben sie schon bei der offiziellen Führung entdeckt, aber der ewige Mühlenradantreiber im Kesselwasen oder das Bootgerippe am gleichen Ort sind neu für sie. Zugleich bemerken sie, dass sie die prachtvollen Häuser, die den alten, stolzen Esslinger Wohlstand repräsentieren, offenkundig hinter sich gelassen haben. Bald geht der Untere in den Oberen Metzgerbach über. In Floras Bar könnten sie der Wirtin gleichen Namens begegnen. Sie ist bekannt in ihrem Quartier und kennt so gut wie jede Geschichte – auch solche, die nicht in der Zeitung standen. Bei ihr wird viel italienisch gesprochen, während zwanzig Meter weiter – wir befinden uns schon fast an der Stadtteilgrenze und blicken jetzt auf den Beton des Altstadtrings – griechisch dominiert. Unser Stromerpaar macht in einem der Cafés Pause und lässt sich ein wenig einlullen vom Stimmengewirr. Als es sich schließlich aufrafft, weiterzulaufen, trifft es eine irrwegweisende Entscheidung: kein Handy, keine Karte. Einfach loslaufen. Sie passieren Gassen, deren klingende Namen in keinem Reiseführer auftauchen. Die Landolinsgasse, die Allmandgasse, die Spritzengasse. Wären sie vor Ausbruch der Coronapandemie da gewesen, wären sie vielleicht über ein eigenartiges Geschäft gestolpert, das sinnbildlich für das Ambiente der Schmuddel-Altstadt stand: das Condom-Lädle. Doch davon ist unter dem Titel „End of Life“ nur noch eine Art Nachruf im Internet zu finden. Die kleine Liebeshöhle, in der wohl auch erotische Fotografien zu sehen waren, hat dichtgemacht. Mit ein bisschen Glück begegnet das Kasseler Pärchen Enrico Bosecke –  auch er ist ein bekanntes Gesicht im Viertel und weiß viel zu erzählen. Bosecke ist ein typischer Vertreter der Esslinger Freiwilligenszene: Er tanzt auf vielen Hochzeiten, engagiert sich, wo er kann, unter anderem im Bürgerausschuss, und ist somit Teil einer ziemlich aktiven Stadtgesellschaft, die die Obrigkeit im Rathaus mit ihren Forderungen immer wieder ins Schwitzen bringt. Aber auch Bosecke hat noch nicht alles gesehen. Mit ihm, hätten sie ihn getroffen, gelangen sie an ein Tor, das verschlossen ist. Ein Blick ins Innere durch die Ritzen des Tors verspricht ein Stück Stadtgeschichte. Etwas undeutlich erkennt man ein Firmenschild, das auf eine Königliche Lederfabrikation hinweist. Zufällig kommt ein Mann vorbei, der die Zaungäste beim Linsen erwischt. Er hat einen Schlüssel und lässt sie in den Hof. Es ist ein für Esslingen typischer Hof, einer der vielen verborgenen Schönheiten. Kopfsteinpflaster, ein alter Brunnen, das alte Firmenschild, zwei Rosenstöcke. Der Himmel wölbt sich schon übers Land, als die beiden Stadtwanderer in der Maille landen. Hätte ihnen jemand zuvor erzählt, dass dieser Park zu den Lieblingsorten der Esslinger gehört, wären sie vielleicht erstaunt gewesen. Es ist ein ziemlich normaler Park, der wie so vieles in der Stadt, erst auf den zweiten Blick seine Attraktivität enthüllt. Die Maille ist der Treffpunkt der Vielvölkerstadt Esslingen. Nur wer fröhlich ist, so scheint es, findet Zugang zu dem Grünstreifen, denn so oft die beiden Besucher aus Kassel auch hin- und herlaufen, sie finden keine Traurigkeit.  Dafür finden sie einen Ort, an dem sie ihren Durst stillen können – ein Brunnen mit Trinkwasser, der selbst Menschen, die schon lange in der Stadt leben, nicht unbedingt bekannt ist. Im Tagebuch der Besucher wird stehen: „Wir haben zwei Gesichter gesehen. Die Altstadt mit allen Postkartenklischees einer mittelalterlichen Stadt, die von sich behauptet, schön zu sein. Aber auch eine Altstadt mit verborgenem Charme und romantischen Plätzen, die entdeckt und erobert werden möchte und nicht bereit ist, die Besucher sofort in ihren Bann zu ziehen. Erst wer beides gesehen hat, sollte behaupten dürfen: „Die Esslinger Altstadt, ja, die hat was. Ich habe sie gesehen.“