Foto: Roberto Bulgrin
Kulturwissenschaftler sind es gewohnt, die Welt mit etwas anderen Augen zu betrachten. Und sie verstehen es, im Alltäglichen das Besondere zu entdecken. Christel Köhle-Hezinger ist Volkskundlerin und Historikerin, sie hat als Professorin an der Universität Jena gelehrt, und sie hat schon so manchen lokalen Mikrokosmos erkundet. Besonders aufmerksam verfolgt sie den Wandel im Esslinger Stadtteil Mettingen.
Wenn sie dort durch die Straßen geht, werden auf Schritt und Tritt Erinnerungen wach – an Menschen, an Gebäude, an Episoden und Begegnungen, die einen festen Platz in ihrem Gedächtnis haben. „Das ist, als würde sich eine Folie über das Bild des heutigen Mettingen legen“, erzählt sie. Und plötzlich wird ihre Kindheit wieder lebendig und sie denkt daran, wie sie den einstigen Wengerter-Ort in jungen Jahren erlebt hat – und wie er sich verändert hat. „Vieles ist typisch für den gesellschaftlichen Wandel und dafür, wie sich die Industrialisierung auf gewachsene Strukturen auswirkt. Der stete Wandel gehört dazu. Trotzdem sollte sich eine Stadt ihrer eigenen Vergangenheit bewusst bleiben. Das heißt nicht, dass man sie zum Museum machen soll. Aber sie sollte sich ihrer eigenen Identität bewusst bleiben.“
Christel Köhle-Hezinger stammt aus einer alten Mettinger Familie. „Hier war früher jeder irgendwie mit jedem verwandt“, weiß sie. „Man war selbstbewusst und blieb gerne unter sich.“ Deshalb war eine Heirat nach Sulzgries oder auf die Neckarhalde eher ungewöhnlich. Anders als heute waren die Höhenlagen früher längst nicht so beliebt. Praktische Erwägungen zählten mehr als gute Luft und schöne Aussicht. Auf den Höhen hatte man weniger Grundbesitz, und die Felder waren dort nicht so schön eben. „Wenn nicht in Mettingen, dann hat man lieber nach Obertürkheim oder Hedelfingen geheiratet. Das galt über Jahrhunderte“, ließ sich die Kulturwissenschaftlerin erzählen.
Wenn heute von Mettingen die Rede ist, denken Alteingesessene an dreierlei: das Oberdorf am Fuße der Weinberge, das Unterdorf, das mit der Industrialisierung Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden ist – und „Neu-Mettingen“, das nach dem Krieg jenseits der Bahnlinie gebaut wurde und heute als „Mettingen-West“ firmiert. Vor der Industrialisierung war Mettingen ein Wengerter-Ort. Der Weinbau sorgte für ein gutes Auskommen, die Landwirtschaft lief bei den meisten eher nebenher: Jenseits des Neckars, der damals noch viel näher am heutigen Ortskern verlief, hatten viele Mettinger ihr Ackerland von der Württembergischen Hofkammer gepachtet. Eigene Felder hatte man auf dem Zollberg. Mittwochs und samstags wurde „gemärktelt“ – was auf den eigenen Äckern angebaut worden war, wurde auf dem Esslinger Wochenmarkt angeboten. Sonntags ging es an den Neckar – im Sommer am liebsten in den Biergarten der Gaststätte Zum Großfürsten, anschließend auf dem „schwarzen Wegle“ mit seinen Schwarzpappeln bis zur Pliensaubrücke und wieder zurück.
Ansonsten hatte man mit der Innenstadt wenig im Sinn. „Das waren ziemlich separierte Welten“, erzählt die Kulturwissenschaftlerin. „Was hinter dem Schenkenberg war, hat die meisten nicht sonderlich interessiert.“ Obwohl Mettingen bereits seit 1399 als Filialort zur Stadt Esslingen gehört, hat so mancher seine Briefe noch in der Nachkriegszeit mit dem Absender „Mettingen am Neckar“ versehen. Christel Köhle-Hezinger kam wie viele junge Mettinger mit dem Wechsel an die Oberschule mit der Innenstadt in Berührung: „Das war erst mal ein Kulturschock, weil vieles, was im Stadtteil galt, plötzlich eine ganz andere Bedeutung hatte.“ Oder gar keine mehr: „In Mettingen hat man sich über die familiäre Herkunft definiert. Namen, die im Stadtteil einen guten Klang hatten, sagten den Mitschülern und Lehrern aus der Innenstadt wenig.“
Die Industrialisierung veränderte vieles. Auf dem Brühl, jener Neckarinsel zwischen Kanal und Fluss, die bis ins frühe 20. Jahrhundert zu Hedelfingen gehörte, siedelte sich 1856 die Württembergische Baumwoll-Spinnerei und Weberei an. Der Umzug der Maschinenfabrik Esslingen vor dem Ersten Weltkrieg brachte Wohlstand nach Mettingen. „Und mit dem Geld kamen die Bagger, denn die Arbeitskräfte, die von auswärts hierher kamen, brauchten Wohnungen.“ Neue Häuser entstanden unterhalb des alten Ortskerns, die etablierten Mettinger sprachen vom Unterdorf. Daran erinnert bis heute das sogenannte Bethlehem-Areal an der Ruländer- und Ludwigstraße, das in den Jahren 1913 bis 1922 als Arbeiter-Kolonie gebaut worden war.
Für Christel Köhle-Hezinger ist diese Wohnanlage ein Paradebeispiel dafür, wie es heute gelingen kann, stadtbildprägende Bausubstanz zu erhalten und dennoch modernen Wohnraum zu schaffen. „Solche Projekte müsste es häufiger geben“, findet die Kulturwissenschaftlerin und denkt etwa an das einstige Schulhaus am Altenbergweg: „Dort hätte sich die Chance geboten, Tradition und Moderne zu verbinden und ein Stück Mettinger Geschichte zu bewahren. Doch wenn Investoren ins Spiel kommen, die keinen Bezug dazu haben, wird’s schwierig.“
Der Zweite Weltkrieg hat die gewachsenen Strukturen in Mettingen nachhaltig verändert: Flüchtlinge aus dem Osten fanden hier eine neue Heimat. Anfang der 50er-Jahre entstand für sie eine katholische Kirche im protestantischen Mettingen.