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Seite 3 Redaktion

Die gute Seele der Maille

Foto: Ines Rudel

Frühaufsteher und Ladenbesitzer kennen ihn: Antonino Bellanca reinigt seit Jahren in den Morgenstunden die Esslinger Maille und Teile der Altstadt – unentgeltlich. Was treibt ihn an? 

Seine Katze Luna weckt ihn morgens um vier. Er frühstückt mit ihr, geht mit Cocci, seinem Spitz, vor die Tür und richtet sich für die Arbeit: Müllgreifer in der rechten Hand, leere Woolworth-Plastiktasche in der linken, eine gelbe Sicherheitsweste und eine Gürteltasche mit Müllsäcken, Hundekotbeutel, Lollis sowie Kleingeld, Zigarettenfilter und Feuerzeuge für Menschen, die solche Dinge gut gebrauchen können. So verlässt er jeden Tag das Haus.

Antonino Bellanca hat es nicht weit zur Arbeit. Er wohnt direkt an der Esslinger Maille. Wobei ihm das Wort Arbeit nicht gefällt. „Ich habe ein Ehrenamt“, korrigiert der 66-Jährige. „Würde ich einen geregelten Lohn bekommen, würde ich das wohl nicht machen. Nicht mit dieser Hingabe.“ Er beginnt seine Tour mit einem Rundgang durch die Maille. Dann läuft er über die kleine Brücke zum Drogeriemarkt Müller, weiter in Richtung Bahnhof, dann die Bahnhofstraße hoch zur Polizei, über den Marktplatz hinunter zur Inneren Brücke und wieder zurück zur Maille. Wenn er noch Kraft hat, dreht er eine Runde durch die östliche Altstadt. Aber meistens sind dann schon fünf Stunden verstrichen und je nach Treiben in der Stadt fünf Müllsäcke voll. Er stellt sie ab an der Brücke am Café Maille. Die Mitarbeiter von den Stadtwerken nehmen sie dann im Laufe des Tages mit. Man kennt ihn in Esslingen, den Mann mit der Silbermähne, den freundlich-melancholischen Augen und den bemalten Schuhen. Jetzt, da es wärmer ist, trägt er luftige Modelle, vorn aufgeschnitten, sodass seine lila lackierte Zehennägel zum Vorschein kommen. Gassigeher grüßen ihn. Kinder rennen ihm entgegen. Ladenbesitzer sind voll des Dankes, dass er vor ihren Türen Zigarettenstummel und anderen Müll aufklaubt. Vor allem seine Landsleute – Bellanca ist Sizilianer – haben ihn ins Herz geschlossen. „Ciao Nino“, rufen sie. Bei Lavazza auf der Inneren Brücke schenken sie ihm auch mal Champagner ein. Bei Gelatone und Dolomiti kriegt er Eis satt.

Seit fast drei Jahren ist er regelmäßig in Esslingen unterwegs. Anfangs, als Passanten ihm Geld zustecken wollten, lehnte er empört ab. Aber seit wenigen Monaten nimmt er kleine Geldspenden an. Wobei er sich immer noch ziert. „Manche geben zehn Euro, aber das ist viel zu viel“, sagt er.

Wird Bellanca nach seiner Motivation gefragt, kommen ihm als Erstes die Kinder in den Sinn. „Ich will nicht, dass sie im Dreck spielen.“ Manchmal findet er sogar Rasierklingen. Und menschliche Exkremente. Bellanca kennt ihre Urheber. „Das lasse ich auch manchmal liegen. Das schaffe ich nicht immer.“ Zu seinen Funden gehören aber auch Smartphones, Geldscheine, Kreditkarten, Brillen. Holt der Besitzer sie nicht im Fundbüro ab, stehen sie dem Finder zu. Allerdings will das Büro dafür eine Bearbeitungsgebühr von 11,50 Euro. Auch von Stammkunden wie Bellanca.

Ihn als bloßen Müllsammler zu bezeichnen, würde jedoch zu kurz greifen. Er kümmert sich auch um „liegen gebliebene Menschen“, wie er sagt. Monatelang brachte er einer verwirrten Frau ein Mittagessen in die Maille . „Pasta, Reis mit Gemüse, Suppe“, zählt er auf. Sie wartete immer an den Steinen am Trinkbrunnen.

Einem Wohnungslosen vor dem Rewe in der Ritterstraße versprach er mal Pasta mit viel Käse, unter der Bedingung, dass er sich für die Mahlzeit frisch macht. Der Mann wusch sich in der Maille, ließ sich von Bellanca Haare und Bart stutzen und verschlang anschließend einen Berg voll Spaghetti. Bellanca zeigt von dem Mann „Vorher und Nachher“-Bilder auf dem Handy.

Seine Arbeitszeiten bringen mit sich, dass er gefährlich lebt. Unter den Flaschensammlern herrsche Krieg, erzählt er. Da er Leergut nicht anrühre, ließen sie ihn jedoch in Ruhe. Neulich wurde er allerdings mit einem Messer bedroht. „Ich sah, wie ein Mann eine Flasche zerschlug. Das hat mir gestunken.“ Er habe ihn aufgefordert aufzuhören, worauf der Mann ein Messer gezückt habe. Mit seinem Greifer konnte Bellanca sich ihn vom Leib halten.

Wenn er heimkehrt, hält er ein Nickerchen, bevor er seiner zweiten Leidenschaft nachgeht: Er malt mit Acrylfarbe, meistens farbenfrohe Bilder, die er manchmal in Geschäften in der Innenstadt zeigt. Zurzeit hängen ein paar im Blumenladen Floral Deko, der vergangenes Jahr eröffnet hat. „Mir gefallen seine Bilder“, sagt die Inhaberin Fikriye Demir. Kunden hätten sich schon nach Preisen erkundigt.

Bellanca braucht das Gefühl, gebraucht zu werden. „So bin ich jeden Tag draußen, ob es regnet oder schneit.“ Das mache ihn zufrieden. 

Bellanca ist 2008 nach Esslingen gezogen, um seinen kranken Bruder zu pflegen. Gebürtig stammt er aus einem Dorf nahe der sizilianischen Stadt Agrigent. Dort lebt heute noch seine Familie.

Er ist gelernter Steinmetz, hat aber die meiste Zeit seines Lebens andere Jobs gemacht. Unter anderem war er Tanzlehrer, hat aber auch bei Ikea und für Gärtnereien gearbeitet, Von diesen Tätigkeiten steht ihm seit Kurzem eine kleine Rente zur Verfügung, mit der er gut über die Runden kommt. (alm)