Foto: Roberto Bulgrin
Auf dem Tisch liegt eine braune Stoffbahn, darauf ein paar weiße Kreidestriche. Mit ruhiger Hand führt Fritz Sohn die Schere daran entlang, prüft kurz die Schnittkante, macht weiter. Aus dem Stück Tuch wird viele Arbeitsschritte später eine Trachtenhose. Der Begriff Handwerk – vielleicht sogar Kunsthandwerk – trifft in seiner kleinen Werkstatt in Krummenacker zu einhundert Prozent zu. Motorisierte Unterstützung erfährt der Schneidermeister nur durch einige wenige Gerätschaften: eine Nähmaschine, eine Versäuberungsmaschine, eine Blindstichmaschine, eine Knopflochmaschine und einen Bügelapparat.
All diese Apparate haben Jahrzehnte auf dem Buckel, scheinen aus der Zeit gefallen, verrichten aber zuverlässig ihre Arbeit. Genauso wie Fritz Sohn, der 86 Jahre alt ist und seiner Berufung seit mehr als 70 Jahren nachgeht. Ein wenig ruhiger lasse er es inzwischen schon angehen, sagt er. „Ich arbeite nicht mehr Full-Time, sondern nur noch von 8 Uhr morgens bis halb sieben am Abend“, ergänzt er mit einem schelmischen Lächeln. Wenn doch mal mehr zu tun sei, fange er allerdings etwas früher an.
Gut zu tun hat Sohn fast immer: Hosen, Jacken, Anzüge, Mäntel, Kostüme und seit mindestens 30 Jahren schwerpunktmäßig Trachten fertigt der Esslinger auf Maß. Auch Änderungen und Reparaturen nimmt er selbstverständlich vor. „Ich flicke für meine Kunden auch mal eine Jeans oder ein anderes Kleidungsstück, wenn es gewünscht wird, das gehört zum Service dazu“, betont er. Apropos Kunden: Diese kommen aus der Nähe, aber auch von weit her – wobei kommen im wörtlichen Sinne zu verstehen ist. Sohn muss Maß nehmen, das funktioniert online nicht. „Und wenn sich mal eine Gruppe oder ein Verein einkleiden will und Mitglieder aus Hamburg mit dabei sind, müssen die halt hierherfahren.“
In aller Regel erreichen den Schneider allerdings Nachfragen aus dem südwestdeutschen Raum, die meisten aus der Region Stuttgart. Gunnar Dieth und sein Blasorchester Egerland aus Waiblingen hat Fritz Sohn ebenso eingekleidet wie den Musikverein Zell. „Da kommen dann schon mal zwei Dutzend oder auch mehr komplette Ausstattungen zusammen, die ich anzufertigen habe“, erzählt er. Das gehe zwar nicht von heute auf morgen, aber es geht: alles von Hand, alles in Eigenarbeit, alles auf Maß. Also doch, um im Schneider-Jargon zu bleiben, dreißig auf einen Streich.
Groß für sich werben muss Sohn dabei nicht: Er taucht lediglich im Trachtenjahrbuch für Baden-Württemberg auf. Der Rest läuft über Mund-zu-Mund-Propaganda. Der gute Ruf eilt dem Ein-Mann-Betrieb voraus. Gegründet im Jahr 1898 durch Großvater August in Sulzgries, ging es am Alexanderbuckel in Krummenacker weiter. Fritz Sohns Vater, der ebenfalls August hieß, stieg ins Geschäft ein, übernahm dieses und bildete später den damals 15 Jahre alten Filius selbst aus. Längst wohnt und arbeitet dieser in seinem Haus an der Krummenackerstraße.
„Gezwungen hat mich niemand, diesen Beruf zu ergreifen, vielmehr war und bin ich bis heute fasziniert davon, dass aus einem einfachen Stück Stoff etwas Schönes entsteht“, sagt Sohn. Das wiederum muss in den Genen liegen. Auch Papa August hat bis ins hohe Alter geschneidert. „Selbst nach einem Schlaganfall, der ihn mit 64 Jahren ereilt hatte, machte er weiter“, erklärt Fritz Sohn und erinnert sich an „die Reha, die er mit ein paar kleinen Bällen in Eigenregie übernahm, damit die Finger wieder funktionieren“.
Seit sein Vater in den 1980ern aufgehört hat, ist der 86-Jährige jedoch allein auf weiter Flur. Fachkundige Hilfe wäre gut. „Es findet sich aber niemand, der mich unterstützt.“ Sohn hat in den vergangenen 40 Jahren immer wieder nach Auszubildenden gesucht. Und einige wenige Interessenten gab es auch. Doch alle haben den Dienst quittiert. Eine der Begründungen dafür vergisst der emsige Schaffer nie: „Mir hat mal ein Lehrling gesagt, dass er nicht gedacht hätte, dass ein Anzug so viele Stiche braucht.“
Dass sein Traumberuf – „vor allem das Vielerlei macht mir Spaß, sonst würd’ ich’s ja bleiben lassen“ – zu einer aussterbenden Art gehört, ist ihm bewusst. „Allein im Raum Esslingen gab es zu Zeiten meines Vaters noch rund 120 Handwerksschneider. Heute bin ich meines Wissens nach der einzige“, sagt Sohn. Mit Bedauern in der Stimme, aber ebenso mit einem Sinn für die Realität. Pragmatismus zeichnet den Senior ohnehin aus. Das 125-jährige Bestehen des Familienbetriebs wurde ebenso wenig gefeiert, wie in seiner Werkstatt irgendwelche Jubiläumsauszeichnungen zu finden sind. „Vor einiger Zeit zum 50-Jährigen meiner Meisterprüfung habe ich ein Schreiben der Handwerkskammer bekommen, dass mir eine Urkunde zusteht“, erzählt Fritz Sohn. „Die hätte ich aber selbst bezahlen müssen“, fügt er kopfschüttelnd hinzu, „also hab ich’s gelassen.“
Wie lange er der Schneiderei noch treu bleibt, kann Fritz Sohn indes nicht sagen: „Ich habe noch kein Endziel. Solange es meine Gesundheit zulässt und die Kunden kommen, mache ich weiter.“ Ginge es nach seiner Gattin Marianne, wäre das anders. Sie sage manchmal „jetzt hör doch auf, dann könnten wir mal was unternehmen“. Und dann setzt der Schneider wieder sein schelmisches Lächeln auf: „Ab und zu gehen wir ja schon in den Urlaub. Aber was soll ich den ganzen Tag unternehmen? Soll ich vielleicht wie ein alter Mann jeden Tag in die Stadt runtergehen und mir die Hausfassaden angucken?“ (eas)