Foto: Roberto Bulgrin
Wie in einem Taubenschlag soll es in Esslingen nicht zugehen. Überpopulationen und Kotproblemen soll entgegengetreten werden. Darum setzt Horst Müller auf eine ganz besondere Methode. Sie funktioniere immer und überall, sagt er. Früher hat er die Tiere mit einem Pfiff angelockt. Das macht Horst Müller heute nicht mehr. Doch pfiffig ist der Esslinger Taubenwart noch immer. Seine Methode, davon ist der 82-Jährige felsenfest überzeugt, könne in jeder Stadt jedes Taubenproblem lösen. Einfach, weil sie funktioniere. Überall. Auch in Städten, die unter einer Überpopulation durch die Vögel ächzten – wie etwa Ostfildern. Der anlockende Pfiff bleibt also aus. Dennoch kommen sie plötzlich angeflattert. Ein ganzer Schwarm. Ein Gewühl aus weißen, grauen, gefleckten Federn. Gefieder an Gefieder. Schnabel an Schnabel. Ganz oben auf dem letzten Deck des Parkhauses am Bahnhof neben dem Dick in der Esslinger Innenstadt unterhält Horst Müller einen von vier städtischen Taubenschlägen. Dreimal in der Woche, immer montags, mittwochs und freitags, werden die Vögel hier gefüttert. Das wissen sie – und darum kommen sie an diesem Mittwochmorgen in großer Anzahl angeflogen. Während die Tiere ihr Futter aufpicken, gehen Horst Müller und Gabriele Quade in das Taubenhäuschen auf dem Parkdeck hinein und tauschen die Eier im Gelege gegen Attrappen aus Plastik oder Gips aus. Die Tauben bemerken den Unterschied nicht, und die getäuschten Tiere brüten weiter. 17 Tage brüten sie, sagen die beiden Taubenwarte – ohne Gegenmaßnahmen könne das zu einer riesengroßen Menge an Tieren führen. Damit der Bluff nicht auffliegt und die Tauben nicht hinter den Trick kommen, lassen Horst Müller und Gabriele Quade immer wieder ein paar Originaleier liegen, und die Tiere dürfen sie ausbrüten. ie Tauben sind noch beim Fressen. Der Gelege-Tausch ist vollzogen. Dann geht es gleich noch ans Großreinemachen. Gesäubert werden muss der Schlag ja auch. Alle paar Wochen wird er zudem desinfiziert. Früher hat Horst Müller die Arbeit allein erledigt, seit gut anderthalb Jahren unterstützt ihn Gabriele Quade in seiner tierischen Mission. Kennengelernt haben sie sich – natürlich – bei einer Veranstaltung im Tierheim Esslingen. Er konnte sie mit seiner Begeisterung anstecken. Denn beide sind von der Sinnhaftigkeit ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit überzeugt. Der Gelege-Austausch hat ihrer Ansicht nach viele Vorteile: Die Vermehrung wird unterbunden, die Taubenpopulation reguliert, eine unkontrollierte Ausbreitung verhindert. Die Tiere erhalten in den Taubenschlägen auf dem Parkhaus am Bahnhof, auf dem Technischen Rathaus in der Ritterstraße, am Neuen Rathaus und bei der Stadtkasse ihr Futter, sodass sich ihre Nahrungssuche zum größten Teil auf diese vier Plätze beschränkt. Das leidige Kotproblem trete ebenfalls nicht auf. „Da die Tauben ihre Hinterlassenschaft zu 70 bis 80 Prozent in den Schlägen lassen, wird die Verschmutzung von Gebäuden und Plätzen in der Stadt verringert“, sagt Horst Müller. Den Tauben werden in den Schlägen Schlaf- und Nistplätze bereitgestellt, und damit bestehe auch eine Gesundheitskontrolle. Ihm falle jedes kranke oder verletzte Tier auf, sagt Horst Müller – und meistens wisse er, was zu tun sei. Aussagen um eine Gesundheitsgefährdung der Menschen durch die Tauben tritt er energisch entgegen: Wissenschaftliche Untersuchungen hätten das eindeutig widerlegt. Nach seinem morgendlichen Einsatz in den städtischen Taubenschlägen ändert sich für Horst Müller wenig. Tauben bestimmen auch den Rest seines Tages. Sein Haus in Esslingen-Berkheim ist sofort erkennbar. Eine Tontaube sitzt auf dem Dach, in das Gartentürchen sind Taubenmotive eingearbeitet. So geht es im Gebäudeinnern weiter. Im Flur hängen unzählige Diplome und Urkunden preisgekrönter Tiere, vom Wohnzimmer aus hat er seine Taubenschläge im Blick. Schon als kleiner Junge hat er sie gezüchtet, als erwachsener Mann hat er das Hobby neben seinem Job als Maurer und Polier beibehalten, als Rentner möchte er nicht mehr darauf verzichten. Anfang 2000, erinnert er sich, bildete sich in Esslingen eine Arbeitsgruppe, die nach einem artgerechten Regulierungskonzept für Tauben zum Schutz der historischen Altstadt suchte. Ganz weghaben wollte sie niemand: „Tauben gehören zum Stadtbild. Was wäre etwa Venedig ohne sie?“ Der Vorschlag, die Eier durch Attrappen zu ersetzen, wird seither in die Tat umgesetzt. Die Stadt Esslingen bezahlte die Errichtung der vier Taubenschläge, das Futter wird heute vom Tierheim Esslingen finanziert. Er und Gabriele Quade erhalten für ihren ehrenamtlichen Einsatz eine Aufwandsentschädigung. Was passiert, wenn er im Urlaub ist? „Urlaub – was ist Urlaub?“, fragt Horst Müller und berichtet dann gleich wieder von seinen Tauben. Vor vielen Jahren ließ er einige der Vögel in Barcelona in Spanien fliegen. Die meisten kamen zurück in den heimischen Schlag. Der ist Horst Müllers ganzer Stolz. Er fliegt auf Tauben – und sie, so scheint es, auch auf ihn. Die Urahnin der Stadttaube ist nach Angaben von Horst Müller die Felsentaube. Die im Laufe der Zeit in den Städten sesshaft gewordenen Vögel stammten von Tieren aus aufgegebenen Taubenschlägen ab, erklärt der Taubenwart. Die Tauben hätten sich in das Leben in den Städten eingefügt. Tauben wurden nach Angaben von Horst Müller im Bundesseuchengesetz von 1966 noch als „Schädling“ eingestuft. Diese Formulierung sei aber im Jahr 1989 aufgrund neuer Forschungsergebnisse wieder zurückgenommen worden. Tauben seien ein wichtiger Teil des Stadtbildes. Seit dem Start des Regulierungsprojekts im Jahr 2000 wurden nach Angaben von Taubenwart Horst Müller insgesamt etwa 3000 Eier durch Attrappen ersetzt. Die Anzahl der Tauben habe seit dem Beginn der Aktion durch den Gelege-Tausch von etwa 1200 auf gut 300 Tiere reduziert werden können.