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Seite 3 Redaktion

Geheimnisvolle Grüße eines Reisenden

Foto: Ines Rudel

Viele lässt es heute staunen, wenn ihnen die Post mehr ins Haus bringt als nur Rechnungen und Werbung. Ein handgeschriebener Brief ist für manche fast schon eine kleine Sensation. Doch was ist, wenn man den Absender gar nicht kennt? Dann ist Rätselraten angesagt. Manche kommen sogar in Erklärungsnöte, wenn Familie, Freunde oder Kollegen die ungewöhnliche Korrespondenz bemerken. 20 Esslingerinnen und Esslinger wurden zuletzt mit Liebesgrüßen eines „reisenden Freundes“ bedacht – alle drei Tage flatterte ihnen ein handschriftlich adressierter hellblauer Umschlag ins Haus. Dass er mit Siegellack verschlossen war, machte die Sache noch geheimnisvoller. Erst in der allerletzten Nachricht gab sich die Urheberin zu erkennen: die Esslinger Schauspielerin, Theaterpädagogin und Autorin Marion Jeiter. Weil man ihrer Idee auch im Stuttgarter Ministerium für Wissenschaft und Kunst einiges abgewinnen konnte, gab es für die „Esslinger Loveletters“ sogar ein Stipendium. 
„Ich bin abgehauen, einfach in einen Zug gestiegen und an einer beliebigen Haltestelle ausgestiegen. Zu schwer lag die Last der letzten Wochen auf meiner Seele. So sehr brauchte ich eine Pause, eine Ablenkung. Nun habe ich mich in einer kleinen Pension eingemietet. Ich weiß noch nicht, wie lange ich hier sein werde. Du glaubst nicht, was für ein schönes Städtchen da zu meinen Füßen liegt.“ So begann der allererste Brief. Und die Empfänger haben gespürt, dass da jemand den Bleistift gespitzt hatte, der oder die nicht nur über eine akkurate Schrift, sondern auch über eine feine Beobachtungsgabe verfügt. 
Es dauerte nicht lang, bis die Empfänger Gewissheit hatten, dass es den „reisenden Freund“ nach Esslingen verschlagen hatte, wo er eine gewisse Isabella zu vergessen gedachte, die ihm das Herz gebrochen hatte. Und mit jedem Brief tauchte der Absender tiefer in die Historie ein: die Anfänge der Stadt, alte Sagen wie die vom Postmichel oder dem Teufel und der Marktfrau, aber auch reale Begegnungen – allen voran die mit einer jungen Frau, die ihn seine Verflossene vergessen lässt. Jedem Brief lag ein literarisches Souvenir bei – allein die Urheberschaft der Korrespondenz, die die Leser mehr und mehr verzaubert hat, blieb bis zuletzt ungewiss. Erst im letzten Brief fand sich ein winziger Umschlag: „Ich hoffe, Ihnen hat die kleine Briefreise durch Esslingen gefallen. Es grüßt Sie herzlichst – Marion Jeiter.“ 
Als Schauspielerin, Theaterpädagogin und Autorin ist die geheimnisvolle Briefeschreiberin vielen ein Begriff, ihr Ehemann Felix hat einen festen Platz im Ensemble der Landesbühne. Marion Jeiter hat schon immer geschrieben: nicht nur in ihr Tagebuch, sondern auch Fiktives – wie in ihrem Online-Projekt „Omas letzte Socken“, in dem sie die Geschichte einer alten Strickjacke fantasievoll weitergestrickt hatte. Und irgendwann hatte sie den Gedanken, ein literarisches Briefprojekt zu starten. „Früher hatten Briefe für viele Menschen eine ganz andere Bedeutung“, sagt die 37-Jährige. „Leider ist davon inzwischen viel verloren gegangen, obwohl sich viele Menschen über handgeschriebene Briefe freuen.“ 
Deshalb war es für Marion Jeiter keine Frage, dass sie jeden Brief von Hand schreiben würde – weder mit dem PC noch als Kopie, sondern Wort für Wort mit gespitztem Bleistift notiert. An 20 Empfänger jeweils zehn vierseitige Briefe. „Manchmal hat mir die Hand vom Schreiben ganz schön wehgetan“, erinnert sich Marion Jeiter. „Aber für mich war klar, dass die Briefe nur dann ihre ganze Wirkung entfalten, wenn sie nicht bloß vervielfältigt sind.“ Da war große Selbstdisziplin angesagt. Nur einmal, nach den ersten 100 Briefen, gönnte sich die Schreiberin einen Tag Pause. 
Marion Jeiter war klar, dass sie einen roten Faden brauchte, der ihre Briefe thematisch verband. Inspiriert von Briefromanen wie Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ ersann sie einen Mann, der nach enttäuschter Liebe einen Neubeginn sucht, sich treiben lässt und schließlich in Esslingen landet – jener Stadt, die Marion Jeiter schon lange fasziniert und in deren Geschichte sie schon so viel Bemerkenswertes entdeckt hat. Monatelang hat sie recherchiert, unzählige Stunden in der Stadtbücherei verbracht – jenem Ort, der ihr auch mit ihren Kindern sehr ans Herz gewachsen ist. Und am Ende hatte sie so viel Bemerkenswertes gesammelt, dass zehn Briefe gar nicht ausreichten, um alles und jedes darin unterzubringen. 
„Ich habe mir lange überlegt, ob ich wildfremde Menschen einfach mit Briefen überraschen darf oder ob das übergriffig wirkt“, erinnert sie sich. Schließlich wählte sie ne­ben einigen Bekannten Menschen aus, die im Esslinger Kulturbetrieb eine Rolle spielen. Von einigen gab’s begeisterte Reaktionen, nachdem sie ihr kleines Geheimnis preisgegeben hatte: „Einige haben es richtig bedauert, dass nach dem zehnten Brief Schluss war“, erzählt Marion Jeiter, um einmal mehr neugierig zu machen: „Vielleicht kommt irgendwann noch etwas . . .“

Marion Jeiter persönlich

Privates Marion Jeiter wurde 1985 in Biberach an der Riss geboren und wuchs im nahe gelegenen Ochsenhausen auf. Ihr Schauspielstudium absolvierte sie an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Mit ihrem Ehemann, dem Schauspieler Felix Jeiter, und ihren drei Kindern lebt sie heute in Esslingen. Gemeinsam realisieren Marion und Felix Jeiter gerne auch Projekte mit lokalem Bezug wie „Omas letzte Socken“ oder das Livehörspiel „Postmichel“.
Karriere Engagements führten die 37-Jährige ans Landestheater Tübingen und an das Theater in Heidelberg. An der Württembergischen Landesbühne spielte sie unter anderem in „Das Lachen der schönen Lau“ sowie in „Der weiße Wolf“. In der Spielzeit 2021/22 war Marion Jeiter, die als Theaterpädagogin anderen Freude am Schauspiel vermittelt, in „Das sanfte Lied des Nebels“ zu sehen. adi