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Seite 3 Redaktion

Ein Leben eingezwängt in eine Bleiweste

Foto: Ines Rudel

Die Stimmung ist so trüb und grau wie an einem Regentag im Herbst – kein Silberstreif am Horizont. Allein der Gedanke ans Aufstehen fällt schwer. Alles scheint sinn- und hoffnungslos zu sein. Der Berg aus Anforderungen und Erwartungen wird immer höher, und die Aussicht, ihn jemals zu bewältigen, schwindet. Bleierne Müdigkeit drückt einen nieder, alles kostet Überwindung, nichts bringt einem Freude. Familie und Freunde reagieren oft ungehalten. Depression gilt als Volkskrankheit, in Zeiten der Corona-Lockdowns hat sich das Problem  verschärft. Wer nicht betroffen ist, kann oft nicht nachvollziehen, was Erkrankte erdulden. Deshalb hat die Robert-Enke-Stiftung die Ausstellung „Impression – Depression“ zusammengestellt, die vermitteln möchte, was Depression bedeutet, wie sie sich anfühlen kann – und dass diese Erkrankung eine Herausforderung für die Gesellschaft insgesamt ist. Zwei Tage lang hat die Stiftung nun am Esslinger Klinikum Gelegenheit zur Selbsterfahrung geboten. Alicia Neef gehörte zu den ersten Ausstellungsbesuchern. „Ich kenne  Menschen, die an Depressionen leiden“, sagt die 24-Jährige. „Man weiß genau, dass es ihnen nicht gut geht, aber es ist nur schwer nachzuvollziehen, wie sie sich wirklich fühlen und was in ihren Gedanken vorgeht. Von diesem Selbstversuch erhoffe ich mir, künftig ein bisschen besser nachfühlen zu können, wie es Menschen in depressiven Phasen geht.“ Genau das möchte die Robert-Enke-Stiftung mit ihrem Projekt „Impression – Depression“ erreichen. Die Ausstellung ist mobil und tourt durch die Lande. Mit an Bord ist Jonas Dirlam, der die Besucher zunächst mit dem nötigen Faktenwissen versieht. Er berichtet von einer erschreckend hohen Zahl an Fällen: Das Bundesgesundheitsministerium  geht davon aus, dass beinahe jeder Fünfte irgendwann in seinem Leben mindestens einmal an einer Depression oder einer chronisch depressiven Verstimmung leidet – jährlich sind mehr als fünf Millionen Menschen betroffen. Frauen häufiger als Männer, ältere Menschen häufiger als junge. Depressive Störungen gehören zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. Dabei wäre es  wichtig, möglichst frühzeitig gegenzusteuern, weil Früherkennung die Heilungschancen erhöht. „Entscheidend ist, dass Betroffene Hilfe erhalten und auch annehmen können“, sagt  Jonas Dirlam. Und er hat beobachtet, dass die Zahl der Menschen, die an einer Depression erkranken, durch den Corona-Lockdown weiter gestiegen ist. Oft fehlt es jedoch am nötigen Verständnis für die Betroffenen. Deshalb steht im Mittelpunkt des Projekts „Impression – Depression“ eine virtuelle Selbsterfahrung: Dazu legt jeder Besucher zunächst eine Bleiweste an, die nachempfinden lässt, was Betroffene spüren. Tatsächlich fühlen sich viele Erkrankte, als wären sie eingezwängt in einen Mantel aus Blei. Dazu streift jeder Besucher eine Virtual-Reality-Brille und einen Kopfhörer über, die völlig von der Außenwelt abschotten und die Möglichkeit eröffnen, sich in depressive Menschen einzufühlen. Man hat die Wahl, ob man die Selbsterfahrung aus der Perspektive eines Mannes, einer Frau oder eines Spitzensportlers angehen möchte. Und Jonas Dirlam warnt vorsorglich: „Wir versuchen, Symptome einer Depression erlebbar zu machen. Auch wenn das nur eine Annäherung ist, kann das eine durchaus belastende Erfahrung sein. Deshalb sollten vormals depressiv erkrankte Menschen nicht teilnehmen.“  Wer sich auf diesen Selbstversuch einlässt, erlebt virtuell die Welt eines depressiven Menschen, der teilhaben lässt an seinen Gedanken. Sie kreisen – immer tiefer taucht man ein in eine Welt aus düsteren Gedanken, Selbstzweifeln, Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit und tiefer Traurigkeit. Und irgendwann sieht man sich in einem dunklen Tunnel – das Licht an dessen Ende wird immer kleiner. Es ist eine Selbsterfahrung, die jeden auf ganz unterschiedliche Weise berührt. Und die ahnen lässt, was es heißen muss, in tiefer Depression zu versinken.  Und am Ende tut es gut, Bleiweste, Kopfhörer und Virtual-Reality-Brille wieder ablegen und die Leichtigkeit des Seins wieder spüren zu können. Am Klinikum Esslingen gibt es verschiedene Bereiche, die sich mit Erkrankungen der Psyche befassen. Deshalb nutzten auch zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Gelegenheit zur Selbsterfahrung – und zum Austausch untereinander. „Je größer das Wissen über psychische Erkrankungen ist und je selbstverständlicher wir mit dem Thema umgehen, desto besser. Vorbeugung, Diagnose und Behandlung können dann viel früher und viel effektiver einsetzen“, sagt Klinikums-Pressesprecherin Anja Dietze.  „Mir hat dieses Projekt den Blick dafür geöffnet, wie sich Menschen mit einer Depression fühlen“, resümiert Alicia Neef. „Wenn man sieht, was Depression bei Menschen anrichten kann, ist es umso wichtiger, ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür zu wecken.“

Depression

Mehr als fünf Millionen Menschen sind jedes Jahr in Deutschland von Depression betroffen. Etwa 60 Prozent aller Betroffenen leiden an weiteren psychischen Krankheiten wie Angst-, Sucht- oder Abhängigkeitsstörungen. Hauptsächliche Zeichen einer Depression sind eine getrübte Grundstimmung, Antriebsarmut, Energieverlust und Müdigkeit. Die Freude am Schönen geht verloren, Hobbys und Interessen werden vernachlässigt. Zu den Begleiterscheinungen einer Depression zählen verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit stellen sich ein. Hinzu können Schlafstörungen, Suizidgedanken und verminderter Appetit kommen.