Foto: Roberto Bulgrin
In Zeiten, in denen Chöre über sinkende Mitgliederzahlen, fehlende Männerstimmen und akuten Nachwuchsmangel klagen, klingt die Geschichte von Werner Jacobi beinahe unglaublich: Im Februar 1947 hat er als damals 21-Jähriger seine erste Singstunde beim Esslinger Liederkranz besucht und ist dem Traditionsverein seither treu geblieben. Also ist der Esslinger, der vergangenen Freitag 96 Jahre alt wurde, seit sage und schreibe 75 Jahren aktives Mitglied des ältesten Gesangvereins der Stadt.
Sehr genau erinnert sich Werner Jacobi, wie er im Februar 1947 beim Geburtstag seines Großonkels einen Sänger des Liederkranzes kennenlernte: „Er meinte: ‚Wir suchen junge Sänger‘, und er hat mir eine Mitgliedschaft im Chor schmackhaft gemacht.“ Weil direkt nach dem Zweiten Weltkrieg für junge Leute in Esslingen nicht viel geboten war, und weil Werner Jacobi immer schon gern gesungen hatte, sagte er zu. „Damals brauchte man noch zwei Bürgen, dass man überhaupt Mitglied werden durfte. Aber das war nur eine Formsache, ich habe meinen Antrag ausgefüllt und wurde zur ersten Singstunde eingeladen“, erzählt er.
Während derzeit im Liederkranz nur noch rund 35 Sängerinnen und 15 Sänger aktiv singen, sah das vor 75 Jahren anders aus: „Wir waren damals 150 aktive Männer im Chor. Als junger Mann war ich vor diesem großen Gremium ein bisschen schüchtern. Aber ich bin sehr freundlich aufgenommen worden“, erinnert sich Werner Jacobi, der von Anfang an im zweiten Bass gesungen hat. Als es schon kurz nach seinem Eintritt zum Sängerfest nach Plochingen ging, spendeten die alten Herrschaften aus dem Chor und finanzierten den jungen Sängern den Fahrpreis. Geprobt wurde im Februar 1947 im Saal des Kronenhofs, der nicht mehr existiert. „Damals gab es noch keine Zentralheizungen. Dafür standen zwei riesige Kohleöfen im Saal, die angeheizt wurden, damit wir überhaupt singen konnten“, so Jacobi.
Neben dem Chorgesang wurde (und wird bis heute) beim Liederkranz die Geselligkeit groß geschrieben: „Ich habe sehr schnell Kontakte zu Sangesfreunden im gleichen Alter geknüpft und Freundschaften schließen können, die über das Singen hinausgingen. Aber auch die Älteren haben sich sehr um uns Jüngere bemüht“, berichtet Werner Jacobi. Er erinnert sich gern an Ausflüge, Wanderungen und Feierlichkeiten: „Früher gab es jedes Jahr ein so genanntes Stiftungsfest, bei dem der Chor zum Essen eingeladen wurde. Und jede Stimme hat ihr eigenes ‚Stimm-Essen‘ veranstaltet.“
Bis heute schätzt Werner Jacobi das breit gefächerte Repertoire des Liederkranzes: „Ich singe alles gerne, von schönen Volksliedern über Operetten- und Opernmelodien, aber auch Musicals, leichte Schlager oder Jazz. Wir sind sogar mit Erwin Lehn und seiner Big Band aufgetreten.“ Besonders beeindruckt haben ihn die Aufführungen großer Werke, wie Beethovens „Missa Solemnis“, das „Paulus“-Oratorium von Mendelssohn Bartholdy oder Beethovens Neunte Sinfonie: „Das war 1955 im evangelischen Gemeindehaus am Blarerplatz. Der Konzertchor – mindestens 100 Männer und 70 Frauen, alle gut angezogen – stand auf der Bühne, die Stuttgarter Philharmoniker waren als Orchester mit dabei und vier Profis als Solisten. Wir mussten die ganze Zeit stehen, aber umfallen konnte auch keiner, weil es so eng war“, erzählt er schmunzelnd und freut sich, „dass das Gemeindehaus mit seiner wunderbaren Akustik erhalten bleibt und dass wir dort weiterhin Konzerte machen können.“
Werner Jacobi bedauert es sehr, dass die Corona-Pandemie das gemeinsame Singen, Proben und Konzertieren zunichte gemacht hat: „Seit zwei Jahren haben wir nun dienstags keine Singstunde mehr miteinander vor Ort gehabt“, erzählt er traurig. Und obwohl er sein iPad fürs E-Mail-Schreiben nutzt, mag er sich für die Online-Proben des Liederkranzes nicht begeistern: „Da kann ja immer nur eine Stimme singen. Da fehlt, dass viele verschiedene Stimmen gemeinsam einen harmonischen Chorklang erzeugen.“
Musik gehört trotzdem nach wie vor zu seinem täglichen Leben. „Ich höre Radio, Schallplatten aus meiner großen Sammlung und auch CDs. Ich kann mir ein Leben ohne Musik nicht vorstellen. Und ich bin überzeugt, dass das Singen dazu beigetragen hat, dass ich so alt geworden bin“, beteuert der gelernte Kaufmann, der sich größtenteils noch selbst versorgt und regelmäßig mit dem Bus in die Stadt auf den Wochenmarkt fährt. Werner Jacobi möchte gerne das 200-jährige Gründungsjubiläum des Liederkranzes im Jahr 2027 mitfeiern. Dann wäre für ihn die doppelte Ehrenmitgliedschaft fällig, nachdem er 1987 für die 40-jährige Mitgliedschaft zum Ehrenmitglied ernannt wurde.