Es fühlte sich nicht schlimmer an als eine starke Grippe mit Gliederschmerzen und Kopfweh. Im Oktober infizierte sich Gudrun N. (Name geändert) mit Corona. Sie hatte nur milde Symptome und war optimistisch, bald wieder fit zu sein. Aber es kam anders. „Ich war ständig müde und war auch nach zwölf Stunden Schlaf noch immer nicht ausgeruht“, erinnert sich die 60-Jährige. „Ich war überhaupt nicht belastbar, hatte keine Zeit mehr, weil ich ständig schlafen musste.“ In Gesprächen fielen ihr selbst alltägliche Begriffe nicht mehr ein. „Das macht einem wirklich Angst.“ Der Arzt verschrieb ihr eine dreiwöchige Reha, die um weitere zwei Wochen verlängert wurde. Inzwischen setzt sie die Therapie ambulant im Corona-Rehabilitationszentrum in Esslingen fort, das sich seit Januar auf Langzeitfolgen von Covid-19 spezialisiert hat. Zwölf bis 15 Therapeuten aus den unterschiedlichsten Sparten arbeiten in der Schelztorstraße zusammen – von klassischer Physiotherapie, neurologischer Ergotherapie, Rehasport, Osteopathie, Atemtherapie bis Logopädie.
Häufig kommt Geschmacksverlust vor
Inzwischen sind die Spätfolgen von Corona zwar als Krankheit anerkannt. Dennoch ist noch vieles Neuland. „Die Patienten sind richtig glücklich, dass man ihre Leiden überhaupt ernst nimmt“, erzählt Susanne Heinl-Baumann. „Es ist erschreckend, wie viele Symptome es bei den Langzeitfolgen gibt. Und die Liste wird täglich länger“, sagt die Physiotherapeutin. Seit Längerem ist bekannt, dass Geschmacksverlust eine häufige Nachwirkung ist. Aber auch der kann sich ganz unterschiedlich darstellen. So kommen in die Reha-Praxis Menschen, die alles nur noch bitter schmecken oder auf bestimmte Lebensmittel mit Würgereiz reagieren.
Von den Spätfolgen betroffen sind auch jüngere Menschen. Die Atemtherapeutin Patricia Billep berichtet von zwei Patienten, 32 und 50 Jahre alt, die vor ihrer Corona-Erkrankung sehr sportlich waren. Jetzt ist für sie schon das Anziehen ein Kraftakt. „Wir können das genau an der Sauerstoffsättigung im Blut messen“, sagt Billep. Wenn die Patienten nur ein paar Mal die Arme anheben, gehe der Gehalt oft schon erschreckend zurück. „Die Kondition ist total weg“, sagt die Therapeutin. „Man kann etwas gegen die Beschwerden tun“, ist Ulrich Schneider überzeugt, der neben dem neuen Reha-Zentrum noch mehrere Physiotherapiepraxen in Esslingen und Umgebung betreibt. Bei der ambulanten Reha gehe es nicht um sportliche Leistungen, sondern darum, wieder normale Tätigkeiten machen zu können wie etwa Duschen, Treppensteigen oder Einkaufen. „Die Lebensqualität ist oft massiv eingeschränkt“, sagt Susanne Heinl-Baumann. Trainiert wird in der Therapie deshalb ganz Alltägliches wie etwa eine Einkaufsliste zu schreiben, bewusst zu atmen oder einen Text zu verstehen.
Auch Kinder und Jugendliche betroffen
In der Regel stehen pro Woche mehrere Therapieeinheiten auf dem Plan. Viele Corona-Patienten haben auch Wortfindungsstörungen. „Das kannte man bisher eigentlich nur von Schlaganfall-Patienten“, erzählt die Logopädin Viviana Eberle. Wie Covid sich auf die Hirnleistung auswirke, werde bislang noch zu wenig thematisiert. „Welche schweren Folgeerkrankungen Long Covid mit sich bringt, ist noch völlig offen“, warnt sie. Auch die Begleitumstände der Pandemie hinterlassen tiefe Spuren. Derzeit werden viele Kinder und Jugendliche an das Reha-Zentrum überwiesen, die nach monatelangem Homeschooling nicht richtig schreiben können, motorische Störungen haben oder im sozialen Verhalten auffällig sind. „Das wird uns wohl noch lange beschäftigen“, vermutet Heinl-Baumann. Homeoffice und fehlende Kontakte haben auch Erwachsene krank gemacht. So gibt es Patienten, die Angst vor dem Sprechen haben. Ältere Menschen leiden oft noch immer unter dem monatelangen Besuchsverbot in den Pflegeeinrichtungen. „Die haben viele koordinative und kognitive Probleme“, berichtet Ulrich Schneider.
Unterdessen hofft Gudrun N., dass sie spätestens im Oktober, also ein ganzes Jahr nach ihrer Corona-Infektion, halbwegs wieder die Person von früher sein wird. Schon jetzt kann sie sich besser konzentrieren und wieder Treppen steigen: „Ich bin auf einem guten Weg“, freut sie sich.
19 Prozent leiden an Spätfolgen
Die Zahl der Menschen mit Langzeitfolgen nach Corona liegt nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) zur Zeit bei bundesweit 550 000. Von denjenigen an Corona Erkrankten, die als genesen gelten, haben nach Angaben der DGP noch etwa 15 Prozent mit den unterschiedlichsten Symptomen zu kämpfen. Besteht die Symptomatik der akuten Erkrankung über vier Wochen hinaus, bezeichnet die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin das als Long Covid. Schlagen sich die Betroffenen nach zwölf Wochen immer noch mit Symptomen herum, leiden sie unter Post Covid. Betroffen von den medizinischen und psychologischen Langzeiteffekten sind Menschen mit schwerem Verlauf als auch solche, die bei ihrer Corona-Erkrankung nur leichte Symptome hatten. pep