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Seite 3 Redaktion

Pliensauvorstadt kämpft gegen Klischees

Foto: Johannes M. Fischer

Die alte Frau macht einen wachen Eindruck. Sie bekommt einiges mit. Zum Beispiel den Lärm auf einem Platz, der keinen Namen trägt. Jedenfalls keinen echten, keinen klingenden Namen. Er heißt einfach nur Stadtteilplatz. Das ist fast so, als würde man einen Menschen nicht mit seinem Vornamen, sondern mit seiner Sozialversicherungsnummer ansprechen. In einem Kafka-Text würde das sogar passen. Hier auch, in der Pliensauvorstadt?

Die neue Mitte

In einer Broschüre der Stadt Esslingen ist von der „neuen Mitte“ die Rede, vom „Herz des Stadtteils“. Dieses Herz klopft der alten Frau aber zu oft zu laut. „Immer, wenn das Wasser fließt.“ Sie meint die Wasserspiele zwischen den Neckarwellen, wobei die Neckarwellen selbst „Skulpturen zum Verweilen“ darstellen. Da der Platz in Streifen eingeteilt ist, erinnert es die Pliensauvorstädter an ein Freibad. Und weil sie kein Freibad haben, nennen sie ihren grauen, steinernen Stadtteilplatz mit ihren Verweilskulpturen „Freibad“.

Die alte Frau schielt nach hinten, wo zwei Männer sitzen und sich gerade eine Bierdose aufgemacht haben. Sie sind nicht laut, sie stören niemanden. Ein paar hundert Meter weiter laufen ein paar Kinder umher. Sonst ist niemand da, der wenigstens das Potenzial hätte, Krach zu machen. Der Ärger der alten Frau ist nicht wirklich greifbar. Aber das Wasser läuft ja in diesem Moment auch nicht. Die Brunnen sind abgestellt. Richtiger Ort, falsche Zeit? Vielleicht.

Der Henkerplatz

Der Stadtteilplatz könnte Galgen- oder Henkerplatz heißen, weil nicht weit von hier einmal der Esslinger Galgen stand. Im Mittelalter oder weiß der Henker wann wurden hier die Halunken zu Tode stranguliert. Das wäre ein Name, der sich einprägt. Aber welche Stadt hat schon den Mut, sich zu den Grausamkeiten des Mittelalters zu bekennen?

Die Pliensauvorstadt gehörte in der Zeit, da Esslingen sich noch mit einer Mauer umgab, zu den Orten vor der Mauer. Ein unkontrollierter Bereich, der wenig Sicherheit bot. Das gehobene Volk verkehrte hier lieber nicht. Habenichtse, Huren, Diebe, Fremde, Kranke. Dreckverschmierte Häuserwände, Viren, Bakterien, Schlamm, Maden, Mücken, Würmer, Ratten, feucht-verschimmelet Luft in engen Kammern. Das blieb lange so.

Die Industrialisierung

Erst um das Jahr 1865 wurde die Siedlung „auf der anderen Seite“ offiziell zu einem Stadtteil und damit ein Teil des Ganzen. Seitdem unterliegt das Viertel einem ständigen Wandel. Zunächst einmal verlor es seinen Aussätzigenstatus. Den Arbeitern der aufstrebenden Industriestadt wurden hier die Wohnkäfige zusammengezimmert, es bildete sich eine Infrastruktur mit Handel und Gewerbe, Fabriken wurden aus dem Boden gestampft, erfolgreiche Unternehmer bauten sich ihre Fabrikantenvillen. In einer Informationsschrift zur Städtebauförderung ist heute noch die Rede von einem „Industrie-, Arbeiter-, Flüchtlings- und Migrantenstadtteil“. Doch wie anders die Pliensauvorstadt heute aussieht! In vielerlei Hinsicht entwickelte sie sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einem Musterstadtteil, gepampert mit öffentlichen Mitteln, angetrieben von dem Ehrgeiz, aus einem vermeintlichen Problembezirk einen Wohnort zu machen, wo sich viele unterschiedliche Menschen nachbarschaftlich und freundschaftlich begegnen. Als ich erzähle, dass ich eine Geschichte über die Pliensauvorstadt schreibe, und dass ich ihr (abgelegtes) Schmuddelimage interessant finde, bekomme ich Warnungen: „Oh nein, bitte nicht wieder dies alte Leier!“ Recht so, als Autor sollte ich dem Reiz widerstreben, die morbide Vergangenheit als poetisches Mittel zu nutzen. Ich würde diesem spannenden Stadtteil nicht gerecht werden.

Meine Kollegin Dagmar Weinberg, die lange Zeit als Redakteurin die Pliensauvorstadt begleitete, munitionierte mich auf: „Lieber Johannes, natürlich gibt es Schmuddelecken, aber die Vorstadt ist längst nicht mehr der von der Stadtverwaltung vergessene Esslinger Stadtteil. Die Vorstadt war vor Jahren Sanierungsgebiet ,Soziale Stadt’ und dadurch ist dort wirklich viel passiert.“ Sie zählt vieles auf, über das sie selbst berichtet hatte. Und es kommt ständig Neues dazu. Der Strom der Nachrichten aus diesem vitalen Viertel reißt nicht ab.

Die Geschichte geht weiter

Wie schwer es dennoch ist, den alten Ruf abzuschütteln, macht der Wikipedia-Eintrag deutlich. „Er (der Stadtteil) liegt etwas isoliert im Süden der Stadt auf der anderen Seite“, lautet gleich der zweite Satz. Ein unsinniger Satz, denn die Pliensauvorstadt, selbst lebendig, ist umgeben von Lebendigkeit und weit davon entfernt, isoliert zu sein: Ärzte und Einkaufsgelegenheit, eine Tankstelle, ein wichtiges Gewerbegebiet, mit der Dieselstraße eine bedeutsame Kultureinrichtung, ein Bürgerhaus, mit den Grünen Höfen ein ökologisches Quartier, Kneipen – das Viertel hat eine gute Infrastruktur. Vor allem aber gibt es eine engagierte Bevölkerung, die gelernt hat, die Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen und sich ihre eigenen Feste zu organisieren.

Die Geschichte und Gegenwart dieses spannenden Stadtteils lässt sich nicht in zwei Artikeln erzählen, und je häufiger man durch seine Straßen läuft, umso mehr gibt es zu entdecken. Die unterschiedliche Architektur der Häuser etwa, die verschiedene Migrationswellen widerspiegeln.