Foto: Roberto Bulgrin
Im Esslinger Rathaus geht eine Ära zu Ende. Nach mehr als 23 Jahren an der Spitze der Stadtverwaltung verabschiedet sich Jürgen Zieger Ende September in den Ruhestand. Dass der Oberbürgermeister ein Jahr vor Ende der Amtszeit seinen Hut nehmen will, kommt für die allermeisten überraschend. Denn der OB hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass er die Geschicke der Stadt mit Leib und Seele lenkt, auch wenn ihm der Wind bisweilen scharf ins Gesicht weht.
„Nach erfüllenden Jahren als Oberbürgermeister dieser Stadt nehme ich mir die Freiheit, diesen Zeitpunkt selbst zu wählen. Es gibt viel zu viele Politiker, die den richtigen Zeitpunkt verpassen“, betont der 66-Jährige und versichert: „Zunächst aber werde ich mich noch bis zum 30. September meinen Aufgaben als Oberbürgermeister in vollem Umfang und mit aller Kraft widmen. Es wird mir eine Ehre sein.“
Stolzer Blick zurück
Ziegers Ankündigung bringt die verschiedenen politischen Lager der Stadt nun in Zugzwang, weil sie sich rasch Gedanken über die Nachfolge machen müssen. Die Erfahrungen anderer Städte zeigen, dass es nicht einfach ist, geeignete Bewerberinnen und Bewerber zu finden.
Dass er viermal in Folge jeweils im ersten Wahlgang als OB gewählt worden war, betont Zieger nicht ohne Stolz: „Ich darf mit Freude auf viele gute und prägende Jahre in meinem Amt zurückblicken.“ Dass er sich mit einer stattlichen Leistungsbilanz verabschiedet, dürfte seinen Entschluss erleichtert haben. „Mein Amtsverständnis war immer vom Anspruch geprägt, ‚der Stadt Bestes’ zu suchen“, erklärt Zieger. „Unterschiedliche Meinungen zu Themen und Projekten sind Teil einer liberalen Demokratie und auch Wesensmerkmal einer engagierten Bürgerschaft. Die Kommunalpolitik strategisch und zielgerichtet zur organisieren, öffentlich Rechenschaft darüber abzulegen und in längeren Zeitachsen zu planen, waren mir wichtige inhaltliche Grundlage bei der Aufgabe, die Verwaltung zu führen und dem Gemeinderat vorzustehen.“
Voller Einsatz bis zum Ende
Zieger bedankt sich bei seinen Dezernenten, beim Gemeinderat und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadtverwaltung: „Ich weiß, dass ich allen einiges abverlangt habe. Wenn es manchmal zu viel gewesen sein sollte, tut es mir leid. Aber ohne dieses Engagement bringt man einen Tanker wie Esslingen nicht in Fahrt. Und ich kann für mich in Anspruch nehmen, dass ich auch mir immer sehr viel abverlangt habe.“ Wenn es in Debatten bisweilen hart zur Sache ging, liegt das für den OB in der Natur des politischen Geschäfts: „Nur mit einer gewissen Konsequenz und Härte bewegt man vieles. Vor allem dann, wenn man zum Wohl der Stadt unpopuläre Entscheidungen treffen muss. Wenn ich Menschen jedoch persönlich verletzt habe, möchte ich mich dafür entschuldigen.“ Umso mehr freue er sich, dass die Fraktionschefs mit großer Wertschätzung auf die Ankündigung seines Abschieds reagiert hätten.
Zieger nimmt für sich in Anspruch, dass er stets versucht hat, dem sozialen Aspekt das nötige Gewicht zu geben. Das mag auch in seiner Biografie angelegt sein: „Es war mir als Arbeiterkind aus dem Rheinland nicht in die Wiege gelegt, ein solches Mandat jemals zu erreichen und so lange ausüben zu dürfen.“ Die Bildungsreformen der 60er- und 70er-Jahre hätten ihm diesen Weg eröffnet – und wohl auch seine ausgeprägte sozialdemokratische Haltung begründet. Auch wenn er nun seinen Abschied angekündigt hat, verspricht er, seine Aufgabe bis zum letzten Tag mit ganzer Kraft zu erfüllen. „In 23 Jahren habe ich meine Energie nie verloren. Unsere Aufgaben sind viel zu wichtig, als dass man nachlassen dürfte.“
Rückzug steht seit 2019 fest
Die Entscheidung, ein Jahr vor Ende der Amtszeit und nach insgesamt 33 Jahren in verschiedenen Wahlämtern zu gehen, folge keiner spontanen Idee: „Sie ist innerfamiliär mit meiner Frau Angela 2019 entschieden und coronabedingt auf 2021 verschoben worden. Es gibt dafür keine äußeren Anlässe, aber meine Frau und ich möchten noch ein anderes Leben ohne ausgefüllten Terminkalender und Sieben-Tage-Woche führen.“ Untätig wird er nicht sein: Er bleibt Regionalrat und behält Ehrenämter wie den Vorsitz der Weiler-Stiftung und der Stiftung Esslinger Kulturpreis. Auch bei Podium und Jazzfestival will er sich engagieren. „Ein Schatten-OB will ich sicher nicht werden“, versichert er.
Angela Zieger erinnert sich noch gut an den Abend, als ihr Mann erstmals zum Oberbürgermeister gewählt wurde – und an den Respekt, den sie beide vor der großen Aufgabe gehabt hätten. Mittlerweile sei die Stadt zu ihrem Lebensmittelpunkt geworden und mit vielen schönen Momenten und persönlichen Freundschaften verbunden. Die promovierte Kunsthistorikerin hat sich nie bloß als „die Frau an seiner Seite“ verstanden, sondern stets ein eigenständiges Profil gezeigt und Akzente abseits der Stadtpolitik gesetzt – nicht nur in ihrer Arbeit an der Stuttgarter Kunstakademie, sondern auch in Ehrenämtern wie als Kuratorin der Weiler-Stiftung und der Bürgerstiftung. Nun freut sie sich auf einen neuen Lebensabschnitt und darauf, mehr Zeit mit ihrem Mann, aber auch mit Freundinnen und Freunden zu haben. Die Freude auf mehr Privatleben, als es einem Oberbürgermeister möglich ist, ist Jürgen Zieger anzumerken.